Apr
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
Mai
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
Jun
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
Jul
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
StartseiteHome Orchester Interview Henry Raudales

interview mit dem Ersten Konzertmeister Henry Raudales

Aus dem Programmheft zum 1. Sonntagskonzert 2017/2018 am 24. September 2017

 

Henry Raudales als Solist in Respighis Violinkonzert 2017 (c) Julia Müller
Henry Raudales als Solist in Ottorino Respighis „Concerto gregoriano“ (Herz-Jesu-Kirche, 2017)

Henry Raudales, Sie stammen aus Guatemala und erhielten im Alter von vier Jahren ersten Violinunterricht von Ihrem Vater, der Konzertmeister in verschiedenen amerikanischen Orchestern und Direktor des Konservatoriums in Guatemala war. Ist das Geigenspiel für Sie tatsächlich ein Spiel gewesen – oder war es von Anfang an auch der „Ernst des Lebens“?

Es war sehr hart, gerade im Vergleich damit, wie meine Frau und ich jetzt unsere eigenen Kinder unterrichten. Sie üben jeden Tag – teilweise auch nach dem System, nach dem ich selbst Geige gelernt habe. Aber das Spielerische, das wir einbauen, habe ich als Kind nicht gehabt. Mein Vater gehörte noch der „alten Schule“ an und hat unter anderem Violine bei Zino Francescatti und Henryk Szeryng sowie Dirigieren bei Erich Kleiber studiert. Das war eine goldene Zeit damals, als viele Europäer nach Guatemala kamen. Doch die Menschen hatten eine ganz andere Einstellung als heute. Mein Vater hat mir vorgegeben, wann ich zu üben hatte, meine Kinder sagen: „Nein, Papa, jetzt nicht.“ Ich musste jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit beginnen. Und immer nur Technik: Tonleitern, Terzen, Dezimen. Einem Kind macht das keinen Spaß. Doch für meinen Vater war Musik sein Leben. Wenn ich morgens aufwachte, hatte er schon eine Schallplatte aufgelegt: die Violinkonzerte von Julius Conus, Louis Gruenberg oder Erich Wolfgang Korngold, also das ganze Repertoire von Jascha Heifetz, Symphonien von Beethoven, denn das war sein Lieblingskomponist, oder auch Oper. Seit ich mich erinnern kann, war das auch mein täglich Brot. Und die Geige war von Anfang nicht nur ein Instrument, sondern eine Stimme, ein Mittel der Identifikation, etwas, womit man Gefühle ausdrücken und eine Geschichte erzählen kann. Damit verbunden ist die Frage nach der Tradition: Woher kommt die Musik, was bedeutet sie? Das habe ich als Kind natürlich noch nicht vollkommen verstanden, aber irgendwie gespürt. Jedenfalls konnte ich aufgrund dieses Hintergrunds schon sehr früh als Solist mit Orchester auftreten: Mit fünf Jahren spielte ich den Gold und Silber-Walzer von Lehár fürs Fernsehen in Guatemala, mit sieben das Moto perpetuo von Paganini mit der North Carolina Symphony, mit neun das berühmte Mendelssohn-Violinkonzert, mit zehn das Zweite Violinkonzert von Wieniawski, dann Paganini, Tschaikowsky …

Also waren Sie ein richtiges Wunderkind! Hätten Sie sich denn jemals einen anderen Beruf als den des Musikers vorstellen können?

Natürlich! Ich liebe Fußball und Tischtennis, spiele Schach. Und ich interessiere mich für naturwissenschaftliche Themen − zum Beispiel Quantenmechanik und subatomische Teilchen. Jetzt erprobt man sogar schon den Quantencomputer [Computer, der auf den Gesetzen der Quantenmechanik beruht]. Die Welt ändert sich so schnell! All das finde ich spannend: die String-Theorie oder die Multiversum-Theorie, eben abstraktes Denken. Ich erkläre sogar meinen Kindern schon, woher wir kommen – und dass alles mit dem „Big Bang“ begann und der Tod vielleicht nur eine Transformation ist.

Als Neunjähriger spielten Sie Yehudi Menuhin vor. War Ihnen bewusst, welch bedeutender Künstler er war?

Ja, natürlich, denn ich bin mit Künstlern wie ihm quasi aufgewachsen. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt Konzertmeister im North Carolina Symphony Orchestra und hatte einen Termin mit Menuhin im Hotel vereinbart. Er machte gerade Yoga, hatte keine Schuhe an. Ich spielte ihm dann drei Stücke vor. Er war so begeistert, dass er mir ein Stipendium für den Besuch seiner Schule in London anbot, was mein Vater aber nicht erlaubt hat. Trotzdem war diese Begegnung eine fantastische Erfahrung. Später habe ich Menuhin mehrfach wiedergesehen; er hat mir auch Tipps und Ratschläge gegeben. Und einmal, als ich dreizehn Jahre alt und zwischenzeitlich wieder in Guatemala war, schickte er ein Team der weltweit bekannten Sendung 300 millones des spanischen Fernsehens für Aufnahmen zu mir – mit dem Hinweis, ich sei der Paganini Amerikas. Das war eine große Überraschung und Ehre für mich.

Zu Ihren Lehrmeistern zählten berühmte Geiger und Pädagogen wie Henryk Szeryng. Außerdem besuchten Sie die Guildhall School of Music and Drama in London. Zuvor, mit knapp siebzehn Jahren, wurden Sie Orchestermitglied der Oper in Antwerpen, gleichzeitig studierten Sie am Konservatorium. Wie war das möglich?

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt ja schon ein großes Repertoire, auf das ich als Geiger zurückgreifen konnte, musste also „nur“ spielen. Die Theorie – Harmonielehre und vieles andere – war der schwierigere Teil. Dafür musste man lernen. Den ersten Vertrag mit der Oper hat übrigens mein Vater unterschrieben, weil ich noch nicht achtzehn war. Vormittags hatte ich also Probe, abends Vorstellung; dazwischen und an den freien Tagen war Zeit für das Studium. Das war schon anstrengend.

1985 waren Sie Preisträger beim Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel. Erinnern Sie sich noch an die äußeren Umstände?

Ich hatte gerade eine Stelle im Orchester des Belgischen Rundfunks (BRT) bekommen, aber man wollte mir für den Wettbewerb nicht freigeben. Deshalb nahm ich zwei Wochen unbezahlten Urlaub, um mich vorzubereiten. Ich habe mir durchaus Chancen ausgerechnet – auch wenn man das ja immer schwer von sich selbst sagen kann. Es gab einen Kandidaten, von dem ich dachte, dass er mir gefährlich werden könnte: Alexander Markov, der für seine Interpretation der Capricen von Paganini bekannt ist. Doch es kam alles anders: Er war nicht im Finale dabei, und ich erhielt den Dritten Preis, gleichberechtigt zum Zweiten. Im Jahr danach habe ich über hundert Konzerte als Solist gegeben. Aber langfristig habe ich mich dann doch für die Laufbahn als Konzertmeister entschieden und zwölf Probespiele für diese Position in verschiedenen europäischen Ländern gewonnen; außerdem spiele ich weiterhin solistisch, widme mich auch der Kammermusik und dem Dirigieren. 1993 wurde ich Erster Konzertmeister bei den Essener Philharmonikern, 2001 kam ich in derselben Funktion zum Münchner Rundfunkorchester. Und ich bin durch meinen Lebensweg ein Weltbürger geworden. Das finde ich gut so.

1992 absolvierten Sie eine Tournee mit Nigel Kennedy, den man als eine Art Punk-Geiger kennt. Wie hat das funktioniert? Sie sind doch ganz unterschiedliche Typen!

Jein! Ich bin zwar klassisch ausgebildet, aber wenn man – so wie es bei mir zeitweise der Fall war − in den USA zur Schule geht, lernt man auch die Popkultur kennen. Ich habe Erfahrung mit Tango, Pop und Rock; mein Bruder hatte eine Band. Mit Nigel Kennedy habe ich das Doppelkonzert von Johann Sebastian Bach gespielt. Er war als Punk gekleidet, ich nicht. Aber er erzählte mir, dass er als Schüler von Menuhin noch ganz brav Krawatte getragen hat. Bei einem unserer Auftritte riss mir eine Saite. Er merkte es, das Publikum nicht. Anschließend sagte er (was ich sehr nett fand): „Wir haben hier einen echten Paganini, er hat auf drei Saiten gespielt.“ Nach den Auftritten hat er immer schwer gefeiert, aber am nächsten Tag hat er wieder ganz diszipliniert geübt.

 

Sound Visions 2017 (c) Julia Müller
Henry Raudales dirigiert das Münchner Rundfunkorchester beim Projekt „Sound Visions“.

Sie haben parallel zu Ihrer Ausbildung als Geiger relativ früh schon mit dem Dirigieren begonnen. Wie kam es dazu?

Als ich zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt war, ließ mein Vater mich am Konservatorium in Guatemala ab und zu dirigieren. Und während meines Studiums in England habe ich ein paar Mal das Orchester der Guildhall School geleitet. Später in Belgien habe ich dann mit Kollegen von der Oper zusammen Konzerte gegeben, in denen ich Solist war und weitere Werke dirigiert habe. Ich habe gemerkt, dass einem die Erfahrung des Begleitens, wie man es an der Oper praktiziert, enorm hilft. Und als Streicher weiß man ohnehin, wie man ein Pizzicato gibt oder spezielle Aspekte der Streichertechnik erklärt. Doch manchmal macht man rein äußerlich nichts, und die anderen reagieren trotzdem. Das ist erstaunlich! Anfangs habe ich auch experimentiert, und man braucht Vorbilder. Aber wenn ich zum Beispiel einfach Carlos Kleiber imitieren würde, würden die Musiker im Orchester nur lachen. Mir ist wichtig, nicht nur die Dynamik, sondern vor allem die Agogik zu vermitteln. Manchmal neige ich vielleicht dazu, zu sehr ins Detail zu gehen. Aber jede Kleinigkeit ist von Bedeutung; für eine gute Streicherkultur spielt es zum Beispiel eine Rolle, wie man einen Lagenwechsel als Portamento ausführt oder in welcher Art man das Vibrato an einer bestimmten Stelle gestaltet. Wenn man gemeinsam daran arbeitet, erreicht man eine tolle Tonqualität und Intensität.

Auch als Konzertmeister geben Sie solche Informationen ohne Worte an das Orchester weiter. Wie läuft das ab?

Meine Bewegungen zeigen an, wie viel Energie ich in eine Phrase hineinlege. Meine Körpersprache sagt also schon sehr viel. Ein Beispiel: Die Ouvertüre zu Rossinis Guillaume Tell, die das Münchner Rundfunkorchester im Sommer in Bad Kissingen aufgeführt hat, endet mit dem berühmten Galopp. Sobald ich mich etwas zum Orchester drehe und den Bogen selbst kaum bewege, ist klar: Niemand darf hier lauter als im dreifachen Piano spielen. Und wenn die Musik dann im Fortissimo explodiert, nehme ich wieder viel Bogen, gebe Impulse für Tempo und Dynamik. Mit solchen Effekten kann man also „spielen“. An anderen Stellen zeige ich an, wie man ein Spiccato [Strichart mit springendem Bogen], ein Vibrato oder eine Phrasierung gestaltet, oder nehme Blickkontakt mit den Bläsern auf. So entsteht ein musikalischer Dialog im Orchester, der auch das Publikum erreicht. Wenn ich gelegentlich das Münchner Rundfunkorchester leite, achte ich auch vom Dirigentenpult aus auf solche Dinge. Zuletzt haben wir einige Werke von Carl Reinecke, darunter drei große Symphonien, für eine CD aufgenommen – und ich bin sehr stolz auf das Ergebnis! Vor etlichen Jahren schon haben wir die Streichersymphonien von Mendelssohn eingespielt, ebenfalls mit sehr viel Agogik. Denn das Wichtigste beim Musizieren ist, dass man etwas erzählt. Wenn ich auf dem Podium bin, als Geiger oder Dirigent, dann gehe ich wirklich in meine Gefühle hinein. In der letzten Saison war ich Solist in der Herz-Jesu-Kirche beim Violinkonzert von Ottorino Respighi [auf CD erhältlich]. Ich hatte gerade schreckliche Bilder von einem Verbrechen an Straßenkindern in Guatemala im Kopf, und trotzdem wollte ich mit der Musik Hoffnung und den Glauben an die Freiheit ausdrücken. Das Publikum hat das, glaube ich, gespürt.

Zuvor waren Sie Solist und Dirigent bei „Sound Visions“. Was hatte es mit diesem Projekt auf sich?

Man muss künstlerisch in alle Richtungen gehen. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass wir dieses Crossover-Projekt mit dem Elektronikkünstler Julian Maier-Hauff realisieren konnten. Auf dem Programm standen Vivaldis Sommer aus den Vier Jahreszeiten und Max Richters moderne Bearbeitung davon. Dazwischen erklangen Improvisationen am Synthesizer. Die Zuhörer konnten im Raum umhergehen statt an einem Platz zu sitzen. Ich glaube, dass eine solche Konzertform bei jungen Leuten sehr gefragt ist und man mehr und mehr wegkommen wird von den Konzerten im Frack, wie sie heute noch üblich sind. Man kann natürlich auch Beethoven spielen, aber man muss versuchen, die Jugendlichen in ihrer Welt zu erreichen. Ich sehe an meinen Kindern, wie geschickt sie mit Tablet und Apps umgehen, sogar anfangen, eigene Dinge zu programmieren. Das ist die Zukunft.

An welche Konzerte mit dem Münchner Rundfunkorchester erinnern Sie sich besonders gern?

Ich möchte kein einzelnes Ereignis herausgreifen, sondern es so beschreiben: Unser Orchester besitzt Idealismus, es hat Seele. Und wir wollen geschätzt werden und Leistung bringen, denn dafür sind wir ausgebildet. Diese Art des Denkens motiviert mich. Und wir haben jetzt eine gute Besetzung mit vielen jungen Musikern, die etwas erreichen wollen. Alles ist möglich. Da sind wir wieder bei der Quantenmechanik!


 

Unsere Seite verwendet Cookies, um Inhalte individuell darzustellen und die Reichweite zu messen. Wir binden Elemente von Drittanbietern wie Facebook und Youtube ein. Details finden Sie in der Datenschutzerklärung.

OK