Entstehung des Werks:
1975 / 1976
Uraufführung:
13. Oktober 1979 in Moskau mit dem Radio-Symphonieorchester der UdSSR unter der Leitung von Maxim Schostakowitsch
Lebensdaten des Komponisten:
* 8. Dezember 1919 in Warschau
† 26. Februar 1996 in Moskau
„Schostakowitschs Persönlichkeit war äußerst enigmatisch“, wusste Mieczysław Weinberg. „Es gab niemanden, den er einen Blick in seine Seele hätte werfen lassen, wirklich niemanden. Verschlossenheit muss als einer seiner primären Charakterzüge angesehen werden.“ Auch habe sich Schostakowitsch niemals „inhaltlich“ über seine Werke geäußert. „Immer wenn man anfing, ihn zu preisen, wechselte er das Thema.“ Sein Freund und Mentor Schostakowitsch hatte den jungen, aus Polen geflohenen Weinberg einst nach Moskau geholt. 1939 war Mieczysław Weinberg aus seiner Heimatstadt Warschau buchstäblich davongerannt und den deutschen Invasoren nur mit knapper Not entkommen. Er konnte kaum noch hoffen, seine jüdische Familie jemals wiederzusehen. Doch erst nach 1960 wusste er es mit Gewissheit, dass seine Eltern und seine Schwester umgebracht worden waren. Weinberg empfand, wie so viele Holocaust-Überlebende, sein Glück wie einen Makel: „Wenn ich mich als auserwählt betrachten würde, weil ich am Leben geblieben bin, dann würde mich das Gefühl überwältigen, dass es unmöglich ist, diese Schuld zu begleichen; dass kein 24-Stunden-Tag, keine 7-Tage-Woche harter schöpferischer Arbeit mich dem Abtragen dieser Schuld auch nur um einen Zentimeter näherbringen könnte.“
Nach dem Ende des Krieges aber war es der sowjetische Diktator Josef Stalin, der die antisemitischen Verschwörungstheorien neu anfachte und 1948 höchstpersönlich den Befehl gab, Weinbergs Schwiegervater zu ermorden, den Schauspieler Solomon Michoels, den Vorsitzenden des „Jüdischen antifaschistischen Komitees“, der als angeblicher „bourgeoiser Agent“ zur Unperson geworden war. Als 1953 eine Gruppe von jüdischen Ärzten bezichtigt wurde, Mordanschläge auf die Regierung zu planen, wurde ein anderer Angehöriger der Familie zum Anstifter des Mordkomplotts erklärt – und auch Weinberg eines Abends als „jüdischer Nationalist“ verhaftet und in der Lubjanka eingekerkert, dem berüchtigten Gefängnis des Geheimdienstes. Ein Bittschreiben seines treuen Freundes Schostakowitsch brachte ihm die Freiheit. Noch bis zu seinem Tod – Weinberg starb 1996 in Moskau – lebte er in Ängsten und war überzeugt, dass sich alles in Russland jederzeit wiederholen könnte: die Gewaltherrschaft eines repressiven Regimes, staatliche Willkür, persönliche Abrechnungen, die Allmacht der Geheimdienste, die zermürbende Bedrohung durch Verfolgung, Verschleppung und Tod.
„Viele Leute glauben oder haben sogar geschrieben, ich sei Schüler Schostakowitschs gewesen, was nicht der Fall war“, stellte Weinberg klar. „Allerdings war die Schostakowitsch-Schule für meine künstlerische Arbeit von grundlegender Bedeutung.“ Und diese bewusste Nachfolge, diese lebenslange Zugehörigkeit und Verbundenheit wollte Weinberg schon gar nicht verbergen, als er nach Schostakowitschs Tod, im Winter 1975/1976, seine Zwölfte Symphonie op. 114 komponierte und nicht nur dem Andenken des verstorbenen Freundes und über alles bewunderten Komponisten widmete, sondern mit dieser Widmung auch die Erzählung fortschrieb, die Schostakowitsch begonnen hatte, ohne Worte, ohne Programm, ohne Titel: die Geschichte des elenden 20. Jahrhunderts mit ihren Gewaltakten, ihren Zwängen, der Macht und Übermacht, die das schutzlose individuelle Leben zerstört.
Im letzten Satz der Symphonie zitiert Weinberg einen Walzer aus seiner Auschwitz-Oper Die Passagierin, die zu seinen Lebzeiten nie in der Sowjetunion und auch sonst nirgendwo aufgeführt wurde: eine Oper, deren Handlung episodisch im Konzentrationslager spielt, in der Vergangenheit, die nicht vergehen will. Weinberg setzt seine Musik unter fast unerträgliche Spannung, lässt das Orchester wie eine zerklüftete Gesellschaft (oder wie in einem monumentalisierten Gruppenkonzert) in Blöcken der Streicher, der Holzbläser, der Blechbläser auseinanderdriften, wählt Polyphonie als Ausdruck der Vereinzelung und Kontrapunkt als Zeichen der feindseligen Belauerung, reiht unbehauene, betont ungeschliffene und unraffinierte Motive aneinander oder stapelt sie aufeinander, wiederholt sie bis zum Exzess, wie fixe Ideen, wie die Obsession eines aufgezwungenen Lebens. Alles bleibt unverbunden, schroff, weiträumig aufklaffend oder brutal überwältigend, aus allem spricht die Angst, das Trauma der Verfolgung. Eine Musik wie ein Aufschrei und gleichzeitig doch verschlossen und „enigmatisch“, weil sie ihre Wahrheit verschlüsselt und vor dem Zugriff der Eindeutigkeit schützt. Wie Hohn klingen die banalen, boshaft „volkstümlichen“ Soli des Marimbafons, das ohnehin wie ein ungebetener Gast oder störender Fremdkörper am Rande des traditionell besetzten Orchesters wirkt. Oder wie eine vergiftete Kindheitserinnerung? Zweifellos dachte Weinberg an Schostakowitsch, an dessen Vierte Symphonie, an die glasklaren Töne des nahenden Todes, wenn zuletzt die Celesta das Ende einläutet, den schaurigen Schluss. Für den hat sich Weinberg eine böse Pointe ausgedacht, da so unerwartet wie absurd die schwarzen Stimmen – Fagott, Kontrafagott, Violoncelli und Kontrabässe – ein Unisono-C ausstoßen, als wollten sie einen rostigen Nagel einschlagen – ein grimmig deplatzierter Rückfall in die Konvention der symphonischen Apotheose, von der nichts übriggeblieben ist als dieser verkratzte, knarzige, sinnlos blökende Ton. Soll das etwa C-Dur sein?
Wolfgang Stähr