20. Januar 2023 | Frank Reinecke

Früchte der Skepsis – Eine Begegnung mit Wolfgang Rihm

Den 70. Geburtstag von Wolfgang Rihm am 13. März 2022 feiert die musica viva mit einer ganzen Konzertwoche Anfang März. Aus diesem Anlass beantwortet Wolfgang Rihm Fragen von Frank Reinecke, Kontrabassist im BRSO – über das Komponieren, die Beziehung zu seinen Werken und auch zur aktuellen politischen Lage.

Den 70. Geburtstag von Wolfgang Rihm am 13. März 2022 feiert die musica viva mit einer ganzen Konzertwoche Anfang März. Aus diesem Anlass beantwortet Wolfgang Rihm Fragen von Frank Reinecke, Kontrabassist im BRSO – über das Komponieren, die Beziehung zu seinen Werken und auch zur aktuellen politischen Lage.

Ein Geburtstag in Zeiten

Mit nunmehr stolzen 70 Jahren sind Sie nur drei Jahre jünger als unser Orchester – wir erleben Wolfgang Rihm immer als einen warmherzigen, forschenden Geist, sprach- und musikgewaltig, stets auf dem Weg … Lieber Herr Rihm, ich möchte Sie nicht zu sehr mit festlicher Lebenswerk-Folklore anlässlich Ihres Geburtstags überhäufen. Denn Ihr frischer Geist zeichnet sich nun einmal durch denkmalfeindliches Denken aus. Sie sind kein Trophäensammler eigener Opuszahlen, sondern ein Komponist, der als beweglicher Freiheitskämpfer um den künstlerischen Zugriff auf sein eigenes Innenleben ringt, mit bekenntnishaftem Mut immer wieder von Neuem den Weg zu sich selbst bahnt, ein Meister schonungsloser Beobachtung und Selbstbeobachtung. Woher beziehen Sie Ihre Sicherheiten, wenn wir mal über die traumwandlerische technische Beherrschung hinausgehen, die sich ja bereits selbst allem Schematischen und Schulmäßigem skeptisch gegenüberstellt?

Wolfgang Rihm: Das sind keine Sicherheiten, sondern, wie Sie richtig andeuten, Früchte der Skepsis. Ich glaube, wir können beim künstlerischen Schaffen unterscheiden zwischen technischen Gewissheiten, die uns aber, würden wir ihnen alleine vertrauen, nur auf der Stelle treten ließen, und intuitiven Strömungen, die, allein für sich betrachtet, auch nur eine Art momentanen Enthusiasmus auszulösen imstande sind. Gewissheiten und Strömungen werden vertieft und gesteigert durch Skepsis, die viel mehr ist als Zweifel und Mutlosigkeit, sondern ihrerseits wiederum eine Art Grundfigur der Kritik, also der Unterscheidungsfähigkeit. Alles zusammen bringt noch nichts hervor, das über sich selbst hinausweisen könnte. Ich glaube, dass hierfür eine der Wärme vergleichbare Impulsivität nötig ist. Erst diese könnte eine Aufgeladenheit erzeugen, die technische Gewissheit und skeptisch grundierte Strömungsenergie einer prozessualen Gestaltungsform nahebringt, die wohl unerlässlich ist, um Musik zu erfinden.
Verschärft formuliert: Ohne Intuition nützt auch Technik nichts, und ohne Inspiration ist Enthusiasmus auch nur eine Art „Sport“. Ferner: Um zur Skepsis vorzudringen, muss man sich ganz schön anstrengen, und ohne innere Wärme nützt auch das nichts. Es ist also gar nicht so einfach, Kunst zu „machen“ – aber es ist auch nicht ganz so unmöglich, wie uns ihre Verächter im Gewand von Kunstwächtern vorgaukeln. Dass man bei all dem abundanten Wärmeaufwand auch noch kalten Blutes bleiben muss … wer will da eigentlich noch Kunst machen? Richtig, es gibt ja bereits überall preiswerte Entlastungssysteme, die den sicheren Weg in die Substanz-und Bedeutungslosigkeit offerieren. Warum rege ich mich so sehr auf? Vielleicht will ich nur davon ablenken, dass ich selbst keine Ahnung habe, wie man’s richtig „macht“. Es ist jedes Mal ein Herumprobieren und ahnungsvolles Schütteln der Zauberbüchse. Drinnen raschelt’s und klappert’s. Aber was kommt heraus?

Komponieren und Rezeption

Ihre Kompositionen ziehen uns immer wieder in etwas hinein. Hoch aufgeladene Innenspannungen und Bewegungsenergien jagen mitten durch uns hindurch, wir erleben zunächst mehr, als wir verstehen, bis sich das Blatt wendet, und Sinn-Ebenen erst vage, dann glockenhell in uns aufleuchten, und wir blicken für kurze Momente in unser eigenes Leben hinein, von einem veränderten Blickpunkt aus. So ging es mir in den Requiem-Strophen, die mich in ihrer hochsubtilen, ausbruchs-verweigernden Latenz so provoziert haben …Wo vollenden sich Ihre Kompositionen: im Abgeben der Partitur, in der Aufführung oder im träumerischen Projektionsdrama des Hörers?

Ich glaube in der Tat, dass sich eine Komposition erst in der Aufführung vollendet. Erst durch Interpretation wird etwas Wahrnehmbares möglich. Was verstehen wir nun unter Interpretation? Sicher nicht, dass zu jedem gespielten Ton ein Gesicht gemacht wird, als würde er schon etwas bedeuten. Paradox ausgedrückt, muss ein Musikstück, ehe es interpretiert werden kann, erst einmal interpretiert werden. Den Notentext in klingende Wirklichkeit überzuführen, setzt voraus, dass er erst einmal gespielt – also bereits interpretiert wird. Einfach nur die Noten zu buchstabieren, lässt die Musik nicht erscheinen, weshalb oft unbekannte oder neue Stücke bei ersten Aufführungen klingen, als würde in Fremdsprachen geradebrecht. Hierbei kann man aber nicht sagen, es würde „falsch“ gespielt. Denn die Noten stimmen ja meist. Die Vorstellung, wir könnten heute beliebte Klangwerke in der Klanggestalt ihrer Uraufführungen hören, löst bei mir eher Schauder aus, und keinen wohligen. Wie haben wohl Mozarts oder Beethovens Klavierkonzerte erstmals geklungen? Vielleicht eher nach Kollektiv-Improvisationen? Heute wird um jedes Sechzehntel gerungen, kleinste Rubati lösen Kongresse aus, ein vielleicht ungewohnter Pedalgebrauch lässt Biographien zerbrechen …

Zurück zu Ihren Werken: Schon ein Einzelton kann zum alarmierenden Ereignis werden, wie ich es bei Sphäre nach Studie erlebt habe, Pausen zerreißen förmlich die Zeit, helle Flächen zwischen den Partitur-Chiffren erwachsen in der Bühnenwirklichkeit zu gewaltigen raumzeitlichen Extensionen, die körperlich spürbar werden, ganz abgesehen von ihrer unmittelbaren Klanglichkeit. Aber an Ihrem Schreibtisch ist es still. Wie geht das? Unterscheiden Sie zwischen Leib und Seele?

Aber genau das ist doch das Geheimnis der Interpretation: eine Art Traumwandel zwischen Text und Erfahrung. Die Angewiesenheit des musikalischen Textes auf die Praxis, in die er hineinspricht, bzw. aus der er herausklingt, ist kein Manko, sondern eine große Chance: dass er eine Zufuhr von Lebenssubstanz erhält, jedes Mal, wenn er „der Fall ist“. Die Zuneigung, mit der ein Notentext dargestellt wird, entscheidet über seine Gestalt. Sein Dargestelltwerden als toter Text würde über seine Erscheinung als etwas Abgestorbenes entscheiden. Das gilt für die Musik aller Zeiten. Aus meiner frühesten Jugend erinnere ich gramvoll die Aufführungen von Mozart-Sinfonien als eine Art Grau-in-Grau-Veranstaltungen. Erst in den Siebziger Jahren begann diese Musik wieder zu sprühen, Volten zu schlagen, ja, sie konnte in meiner Vorstellung zum Urbild des Unvorhersehbaren werden, als die ich sie heute noch bewundern darf. Und trotzdem galt sie als dieses schon in den seit Mozarts Tod vergangenen Jahrhunderten. Es muss also etwas Unzerstörbares in den Notentexten selbst wohnen, unabhängig von den jeweiligen Moden ihrer Darstellung. Nach diesem Unzerstörbaren wird wohl jede und jeder suchen und forschen, ja: bitten, wenn es darum geht, erneut Musik zu gebären.

Opus oder Prozess

Als Orchestermusiker durfte ich oft Ihre Musik mitverwirklichen und leidenschaftlich durchfreuen … solche Formulierungen sind natürlich brav wie Hauskaninchen, wenn ich nur an Tutuguri denke. 1986, noch grün hinter den Ohren, war ich schon dabei, ebenso nach mehreren Jahrzehnten wieder unter der zenmeisterlichen Leitung von Kent Nagano, als wachendes Auge des Orkans. Stellvertretend für viele Ihrer Kompositionen, scheint bei Tutuguri sich etwas aufzurichten, das den Begriff des „Werkes“, des Opus, geradezu von sich abzuwerfen versucht: Denn hier regiert Prekäres, führt Ausnahmezustände herbei, widersetzt sich emotionaler, geschweige denn rationaler Einordnung. Es greift über sich selbst hinaus, greift unmittelbar ins Leben der Hörer ein, als verließe es das „Werk“, das abgeschlossene Bild im Goldrahmen. Ist das nicht paradox?

Nein, es ist „normal“. Denn genauso ist Musik: Sie greift ein ins Leben der Hörer. Aber – ein großes ABER – : Damit kann ich als Komponist nicht rechnen, ich kann nicht darauf spekulieren, kann nichts in die Absicht nehmen! Ich darf dankbar sein und mich freuen, wenn möglich auch mich wild unbändig freuen, wenn es passiert. Aber es gibt keine Rezepte! Und das ist auch gut so. Beim Komponieren spüre ich gelegentlich, dass mich die Musik selbst auf den Weg zu sich hinführt. Dann darf man sich nicht zieren. Sonst landet man womöglich zusammen mit seinem Getön wirklich in jenem „Goldrahmen“, den Sie vorhin (für mich so bedrohlich!) als Schatten an die imaginäre Wand geworfen haben. Ein „abgeschlossenes Werk“ – das klingt nach Erstickung. Aber ich deutete ja den Ausweg an: Die Musik führt mich selbst zu sich …

Wenn es dann wirklich dazu kommt, dass die Klänge selbst die Herrschaft übernehmen – bleiben sie Ihnen als Komponist dennoch stets treu, oder verselbstständigen sie sich bei Gelegenheit, werden unberechenbar, gar elfenhaft gefährlich? Als wir in der Berliner Philharmonie kurz über Tutuguri sprachen, als sei es der Golem … Fürchten Sie sich, oder könnten Sie Stolz empfinden, beinahe wie ein Vater?

Die Werke haben alle ihr Eigenleben. Sie werden, wie sie wollen, und je mehr ich versuche, ihr Erziehungsberechtigter zu bleiben, umso mehr wird meine Energie an ihnen verpuffen. Manche wachsen über ihren Erzeuger, ja über sich selbst hinaus und sind mit der Zeit kaum mehr wiederzuerkennen. Wieder andere bleiben erstmal Jahre im Schatten, werden dann plötzlich „entdeckt“ und womöglich gegen ihren Vater oder ihre Mutter in Stellung gebracht … Am besten: Ich beschränke mich auf’s Beobachten und lasse nie einen Zweifel an meiner Liebe. Das heißt: Ich werde nie eines meiner Werke verleugnen.

Das Orchester als Ikone

Das große Symphonieorchester in unserer Form ist eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts und damit eine Ikone damaliger Macht- und Unterordnungsideale, mit seinen Dienstgraden leider nicht ganz frei von Parallelen zu militärischen Hierarchien. Auf der anderen Seite steht die ältere Idee des Orchesters als einer emanzipierten Künstlergemeinschaft ebenfalls im Raum. Sie komponieren seit Ihren Anfängen für das große Orchester. Hat sich diese Ikonenhaftigkeit in Ihrem Blick erhalten, oder steht heute das System Dirigent und Orchester für etwas Anderes – und wie gehen Sie beim Komponieren mit dieser Fragestellung um?

Die Kompositionen für große Besetzungen entstehen bei mir immer in Gegenspannung zu kleinbesetzten Arbeiten. Und die Vorstellung eines semimilitärischen Apparates ist mir gänzlich zuwider. Auch in den größten „Massierungen“ sehe ich das Zusammenwirken individueller Energien, also etwas Organisches, kein Zusammengesetztes nach Baukasten-Prinzipien. Dass dieses Organische organisiert werden muss, um von der sprachlichen Metapher ins reale Klingen zu „springen“ – das ist mir natürlich klar, aber auch dieses Organisieren folgt dem Ideal naturhaften Wachstums und nicht der Vorstellung von Aufmarsch und Präsentation der Mittel, als seien diese „Waffen“. Deshalb sind mir auch Entwicklungsformen wesensnäher als Baupläne. Mehr Dschungel, keine Magistralen …

Hector Berlioz vertrat ja zu seiner Zeit die Auffassung, ein Orchester sei eine Art Fabrik, und die Orchestermusiker seien nichts Anderes als vernunftbegabte Automaten. Kommen nun in diesem Hochleistungsapparat unter Umständen auch Irrationalitäten ins Spiel?

Wie vorhin angedeutet: Musik existiert nicht ohne Interpretation. Das Exerzieren des Textes ist noch nicht Interpretation, genauso wenig wie das delirante Phantasieren über den vermuteten „Sinn“ des Textes bereits Interpretation sein kann. Interpretation ist ein Glücksfall, vielleicht ein Geschenk und eine Gabe. Aber je mehr wir ihr eine Aufgabe zuteilen, ihr eine Erscheinungsform vorschreiben, umso mehr wird sie sich entziehen, wenn sie nicht gänzlich durch Abwesenheit glänzt.
Berlioz ist sicher ein Sonderfall. Als genuiner Orchesterkomponist war er vor allem an den architektonischen Möglichkeiten interessiert und an ihren literarisch begründbaren Ausdruckssphären. Sicher hätte ihn die Idee des „Maschinenmenschen“ begeistert, und ein echt Baudelaire’scher Spleen weht durch alle seine Orchestermaschinen. Außerdem spüre ich bei ihm die zeitlebens andauernde Verarbeitung des grundierenden Schocks „Beethoven“ – und zwar des orchestralen Beethoven, besonders der Pastorale. Ohne diese obsessive irrationale Schicht wäre sein Werk viel ärmer. Berlioz leistet also eine Art Interpretation Beethovens. Eine der größten musikalischen Erfahrungen meiner Jugend war übrigens das Mitwirken im Chor des Berlioz-Requiems, das in dieser frühen Zeit viel wirkungsmächtiger in mich eingriff als Beethovens Neunte Symphonie. Meine Berlioz-Liebe war damals so ausschließlich, dass ich mit einem Schulfreund fast in einen Faustkampf geriet, als dieser einmal von der Symphonie fantastique als „verstaubter Musik“ sprach.

Wie ist es dann bei Gustav Mahler? Er hat ja seine Partituren in allen Details der Artikulationen, Klangbalancen und Tempi geradezu schikanös ausformuliert, um sie, wie er selbst erklärte, vor den Interpreten in Schutz zu nehmen. Fürchten Sie sich auch manchmal davor, dass Ihre Kompositionen von ausdruckswütigen Musikern verbogen werden könnten?

Nein. Offen gesagt: „Ausdruckswütige Musiker“ sind ein Geschenk. Für die meisten ist der Dreisatz „Ausdruck – Wut – Musik“ eine Art von fremdsprachigem Zauberspruch. Aber im Ernst: Indem ich versuche, die Deutlichkeit der Partitur ins Un-Missverständliche zu steigern (und darum ging es wohl Mahler; ihm ging es nicht um Bürokratie …), will ich ja nicht Interpretation ausschließen, sondern ihre Voraussetzungen klären. Überbezeichnete Notentexte können Grauwerte provozieren, das lehrt die Erfahrung. Deshalb ist die Schrift, in deren Gestalt wir unsere Kompositionen sozusagen hinein-verantworten, so sehr verantwortlich für die Chemie des Organischen, als dessen Prozess sich die Musik dann offenlegt. Aber manchmal ist eine Bezeichnung, die wir unterlassen, bezeichnender – also: deutlicher – als eine Art Schilderwald, der die Verkehrswege eher behindert als klärt. Ich bleibe da lernfähig.

Jetzt

Eine Rückblende. Wolfgang Rihm 1995: „Ich möchte in keiner anderen Zeit gelebt haben, ich möchte auch in keiner anderen zukünftigen Zeit leben, denn ich verstehe das Menschsein als die Fähigkeit, das Jetzt zu begreifen und in Beziehung zu setzen zu einem Zukünftigen, Möglichen und zu einem Vergangenen und Gewesenen“ – so haben Sie es damals auf den Punkt gebracht. Heute herrscht wieder Krieg in Europa. Wie denken Sie jetzt darüber? Sind Sie noch immer froh, genau heute zu leben?

„Froh“ war ich auch damals nicht, ich wollte meine Wirklichkeit nur nicht eintauschen gegen ein vermeintlich besseres „Früher“ oder „Später“. Und so ist es auch heute. Der Wunsch, in eine Art geschichtsfreien Raum hinein zu produzieren, ist mir fremd. Auch wenn mir einige kritische Stimmen genau das immer andichten wollen, wahrscheinlich weil ich nicht in jede sich bietende Aktualität mich hinein-empört habe. Die Situation ist heute anders: Das Kriegsgeschehen in der Ukraine ist als eine ungeheuerliche Woge von erpresserischem Schrecken über die Menschen gekommen, und der absurde Kriegszustand wird noch dadurch gesteigert, dass er nicht so genannt werden darf, weder von denen, die ihn herstellen, noch von denen, die ihn erleiden müssen. Was kann Musik da ausrichten? Soll sie Auflehnung darstellen? Womöglich mit Mitteln, die im nächsten Augenblick in das Entgegengesetzte umgewertet werden könnten? Ich bin da sehr unsicher. Wie schnell klingen Gesten der Auflehnung plötzlich nach dem Lärm von Unterdrückungstriumph. Vielleicht liegt es am Ungerichteten des Gestischen insgesamt? Aber die Zurücknahme der Impulsivität erzeugt schnell eine Atmosphäre befriedeten Einverständnisses …

Früher galt Ihre Musik als ein Rütteln an der Zementiertheit der Welt. Jetzt rüttelt die Welt noch viel gewaltiger an uns. Wie zementiert ist die Welt im Augenblick überhaupt noch, und was bedeutet das für Ihre schöpferische Arbeit?

Von diesem Problem versuchte ich eben zu sprechen. Ich glaube, die Musik darf die menschliche Bezugssphäre nicht verlassen. Das Maß ist wichtig, und sei es das erkennbare Ringen mit dem Unmaß. Alles was eine Überschreitung der menschlichen Maß-Möglichkeiten darstellt – sei es in „spirituellem“ Gewand oder in einer Steigerung der Mittel zugunsten „übermenschlicher“ Inhalte – erscheint mir von Übel. Musik ist Menschenkunst und bedarf einer empathischen Grundierung.

Unsere Tage

Einigen von uns, auch mir, fällt es in diesen Tagen schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie geht es Ihnen angesichts eines Angriffskriegs auf ein europäisches Nachbarland? Und daraus die Frage: Finden Sie als geübter Arbeitsethiker in diesen Tagen noch in die Konzentration Ihrer Kompositionsarbeit zurück?

Kaum. Alles erscheint wie unter Anführungszeichen. Ein großes „Quasi“ schwebt über allem…

Ist es ethisch, sich in diesen Tagen überhaupt mit Kunst zu beschäftigen, und sich in jenen berühmten Turm zu flüchten, von dem wir nicht einmal wissen, ob er wirklich aus Elfenbein ist …?

… aber gerade in solchen Zeiten ist es wichtig, die Arbeit an den Künsten nicht verkommen zu lassen. Gerade jetzt dürfen wir die Energien der Kunst nicht brachliegen lassen – sie gehören zu unseren kostbarsten Rohstoffen. Der menschliche Gestaltungswille ist das einzige neben der Zerstörung der umgebenden Natur, das über den Menschen hinausweist. Gestaltete Formen sind die einzigen Gegenkräfte, die sich der Deformation, der Ungestaltheit, entgegenstellen.

Ist die Musik also keine Flucht aus der Gegenwart, sondern in die Gegenwart?

Musik ist Gegenwart. Genauer noch: Gegenwart, die sich im Augenblick ihres Erscheinens vergegenwärtigt. Sie ist vorher nur als Ahnung und nachher nur als Erinnerung vorstellbar. Musik ist, wenn sie ist. Sie existiert nicht daneben.

Ist nicht das althergebrachte und jetzt von neuem diskutierte Modell, Kunst und Politik als unbedingt trennbar voneinander zu betrachten, unhaltbar, sobald man für die Kunst die Grundprinzipien von Freiheit, Aufklärung und Humanität voraussetzt?

Aber die Grundprinzipien der Politik sollten doch dieselben sein: Freiheit, Aufklärung und Humanität.

Wir alle danken Ihnen und gratulieren Ihnen von Herzen zum 70. Geburtstag!

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